Der Koffer
Niemand wurde verletzt. Niemand ist gar aus dem Leben geschieden. Der Holzschuppen eines alten Gutshofes in Kleinschönau war unzweifelhaft absichtslos eingestürzt. Aus dem Trümmerhaufen wurde unversehrt ein verschlossener alter und noch stabiler dunkelbrauner Hartschalenkoffer geborgen. Kümmerlicher Müll oder edle Zeitkapsel?
Zeitkapseln waren früher üblich — althergebracht. Behälter zur Obhut für Dinge für bestimmte Zeit. Zeittypische Gegenstände für nachkommende Menschenalter beschirmen.
Typische Zeitkapseln, eher kupferne Kiste, Schatulle, Kassette genannt, wurden meist bei einer Grundsteinlegung eingemauert. Auch oben im Kirchturmknopf wurden Zeitkapseln hinterlegt. Grundsteine werden selten geöffnet. Kirchturmspitzen öfter. Inhalte aus der Zeit wurden eingcschlossen: Münzen, Tageszeitungen, Chroniken und Informationen zum Ort.
Es gibt auch Zeitkapseln, die man sich selbst schickt. In ferner Zukunft öffnet. Zeitkapseln für Nachkommen. Persönliche Vorhersagen können alsdann beleuchtet werden.
Der Inhalt des entdeckten Koffers wühlte die Finder auf. Die drei Schlösser waren zu, nicht verriegelt. Der nur leicht ramponierte Koffer ging mühelos auf. Er enthielt ein längeres Manuskript, ein Paket Papiere, Behördenbriefe. Gedichte, handgeschriebene Briefe mannigfaltiger Absender und Adressaten, Fotos in schwarzweiß und bunt, ein Fotobuch mit amerikanischen Soldaten in München, auch einen kleinen Stick zur Speicherung elektronischer Daten, Sand und Muscheln.
Der Koffer mit seinem Inhalt wurde sorgsam gehütet. Blätter waren maschinell oder handschriftlich beschrieben. Nicht alles war erkennbar, Passagen verblasst. Fragmente, Überreste, Bruchstücke. Daten aus dem Stick nur schwer auslesbar. Auf einer Kofferseite waren Initialen R.F. eingraviert. Ein Aufkleber aus Sydney. Ein Farbfoto im Koffer wurde am Ayers Rock in Australien aufgenommen, ohne Datum, vielleicht ein wohl jüngeres Mitglied der Sippschaft.
Längere Zeit kümmerte sich niemand um den Koffer. Keine Anhaltspunkte, wo und wann hergestellt, wer und wann gekauft, wie und wann nach Australien und dann nach Deutschland. Keine Nachfragen. Der alte Koffer mit wertvollem Inhalt wurde nicht vermisst, oder doch?
Nun gab es nach längerem Überlegen einen Entschluss. Sichten und auswerten. Romanfragmente, Textbruchstücke und Unterlagen aufarbeiten. Durch behutsames Lektorat etwas daraus machen. Nicht nachhaltig verfälschen. Was war Wahrheit, Erfindung oder eben frei erfundene Fiktion? Was fehlte in diesem Koffer? Was wurde absichtlich nicht hineingetan? Wie sollte das hier prüfbar sein? Niemand konnte befragt werden.
Alles sollte wohl irgendwann einmal ein Roman werden. So die Empfindung. Es ist nun zeitverzögert ein Romanfragment mit Bruchstücken und Lücken geworden. Keine Biografie oder sowas. Oder vielleicht doch?