Der Koffer

Der Koffer

Heinrich Jüttner alias Ricky Fiala
Hein­rich Jüt­tner alias Ricky Fiala

 

Nie­mand wurde ver­let­zt. Nie­mand ist gar aus dem Leben geschieden. Der Holzschuppen eines alten Gut­shofes in Klein­schö­nau war unzweifel­haft absicht­s­los eingestürzt. Aus dem Trüm­mer­haufen wurde unversehrt ein ver­schlossen­er alter und noch sta­bil­er dunkel­brauner Hartschalenkof­fer gebor­gen. Küm­mer­lich­er Müll oder edle Zeitkapsel?

Zeitkapseln waren früher üblich — altherge­bracht. Behäl­ter zur Obhut für Dinge für bes­timmte Zeit. Zeit­typ­is­che Gegen­stände für nachk­om­mende Men­schenal­ter beschir­men.

Typ­is­che Zeitkapseln, eher kupferne Kiste, Schat­ulle, Kas­sette genan­nt, wur­den meist bei ein­er Grund­stein­le­gung einge­mauert. Auch oben im Kirch­turmknopf wur­den Zeitkapseln hin­ter­legt. Grund­steine wer­den sel­ten geöffnet. Kirch­turm­spitzen öfter. Inhalte aus der Zeit wur­den eingc­schlossen: Münzen, Tageszeitun­gen, Chroniken und Infor­ma­tio­nen zum Ort.

Es gibt auch Zeitkapseln, die man sich selb­st schickt. In fern­er Zukun­ft öffnet. Zeitkapseln für Nachkom­men. Per­sön­liche Vorher­sagen kön­nen als­dann beleuchtet wer­den.

Der Inhalt des ent­deck­ten Kof­fers wühlte die Find­er auf. Die drei Schlöss­er waren zu, nicht ver­riegelt. Der nur leicht ram­ponierte Kof­fer ging müh­e­los auf. Er enthielt ein län­geres Manuskript, ein Paket Papiere, Behör­den­briefe. Gedichte, handgeschriebene Briefe man­nig­faltiger Absender und Adres­sat­en, Fotos in schwarzweiß und bunt, ein Foto­buch mit amerikanis­chen Sol­dat­en in München, auch einen kleinen Stick zur Spe­icherung elek­tro­n­is­ch­er Dat­en, Sand und Muscheln.

Der Kof­fer mit seinem Inhalt wurde sorgsam gehütet. Blät­ter waren maschinell oder hand­schriftlich beschrieben. Nicht alles war erkennbar, Pas­sagen verblasst. Frag­mente, Über­reste, Bruch­stücke. Dat­en aus dem Stick nur schw­er ausles­bar. Auf ein­er Kof­fer­seite waren Ini­tialen R.F. ein­graviert. Ein Aufk­le­ber aus Syd­ney. Ein Farb­fo­to im Kof­fer wurde am Ayers Rock in Aus­tralien aufgenom­men, ohne Datum, vielle­icht ein wohl jün­geres Mit­glied der Sipp­schaft.

Län­gere Zeit küm­merte sich nie­mand um den Kof­fer. Keine Anhalt­spunk­te, wo und wann hergestellt, wer und wann gekauft, wie und wann nach Aus­tralien und dann nach Deutsch­land. Keine Nach­fra­gen. Der alte Kof­fer mit wertvollem Inhalt wurde nicht ver­misst, oder doch?

Nun gab es nach län­gerem Über­legen einen Entschluss. Sicht­en und auswerten. Roman­frag­mente, Textbruch­stücke und Unter­la­gen aufar­beit­en. Durch behut­sames Lek­torat etwas daraus machen. Nicht nach­haltig ver­fälschen. Was war Wahrheit, Erfind­ung oder eben frei erfun­dene Fik­tion? Was fehlte in diesem Kof­fer? Was wurde absichtlich nicht hineinge­tan? Wie sollte das hier prüf­bar sein? Nie­mand kon­nte befragt wer­den.

Alles sollte wohl irgend­wann ein­mal ein Roman wer­den. So die Empfind­ung. Es ist nun zeitverzögert ein Roman­frag­ment mit Bruch­stück­en und Lück­en gewor­den. Keine Biografie oder sowas. Oder vielle­icht doch?